Der Tag, an dem 3 Golden Girls die Freiheit fanden.
Ein früher Samstagmorgen im September. Wir sind unterwegs auf der Autobahn 2 Richtung Berlin. Was uns erwarten wird, wissen wir nur aus Erzählungen, aus Berichten, von Fotos. Wissen wir es wirklich? Wissen wir wirklich, was uns dort erwarten wird? Nein, im Grunde wissen wir es nicht. Die Vorstellung, wie es dort sein wird, hat mich die letzte Nacht um meinen Schlaf gebracht. Die wildesten Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen. Eingesperrte Hunde, traurige Augen, Hundenasen die sich durch Gitterstäbe drücken…
Unser Weg führt uns zu einer „Vermehrerfarm“
mitten in Deutschland. Die „Vermehrerfarm“, die eigentlich als Zuchtstätte deklariert ist, wurde vor einiger Zeit vom Amtsveterinär geschlossen. Nun muss der Betreiber dieser sogenannten Zuchtstätte alle Hunde abschaffen, loswerden oder verkaufen so schnell wie möglich. Das Team vom Retriever Netzwerk musste schnell entscheiden: Können wir helfen? Haben wir genug Pflegestellen? Können wir die Hunde so schnell wie möglich abholen?
Logistische sowie menschliche Fragen wurden schnell geklärt. Pflegestellen wurden schnell gefunden, die Fahrtketten wurden rasch organisiert. Wir dürfen drei Golden Retriever Zuchthündinnen abholen. Der Zuchtstättenbetreiber erwartet uns Samstagmorgen.
Wir erreichen „Die Zuchtstätte“. Ein riesengroßes Gelände, außerhalb eines Dorfes gelegen. Ringsherum ist das Gelände durch hohe Bäume und Büsche zugewachsen. Von der Hauptstraße geht ein Feldweg ab. Am Anfang des Feldweges steht ein großes Hinweisschild „Zuchtstätte XYZ – Herzlich Willkommen“.
Wir fahren den Feldweg bis zu einer dreckigen Hofeinfahrt. Rechtsseitig vor uns die ersten Zwingeranlagen aus Holz. Dahinter erstreckt sich das Wohnhaus, direkt daran angeschlossen sind Stallungen. Ein paar Meter vor uns eine Art ’Präsentierzwinger’ mit kleinen Boxen, etwa 1 x 1 Meter groß, 50 Zentimeter hoch, nach oben hin offen, mit einer Art Carport überdacht.
Der Präsentierzwinger
ist etwa 5 x 5 Meter groß. In ihm, in den verschiedenen Boxen, sitzen Welpen. Mindestens 30 Stück, schätze ich. Ich sehe Golden, Setter, Beagle und andere Rassehunde dort ausgestellt. Präsentiert! Perfekt präsentiert für die potenziellen Welpenkäufer.
Die Welpen freuen sich über unseren Besuch, versuchen aus den Boxen herauszukrabbeln. Sie bellen und winseln. Und sie wedeln in einer Tour. Wie niedlich die doch alle aussehen, schießt es mir durch den Kopf. Wir werfen uns einen vielsagenden Blick zu. Ich schalte den Motor aus.
Hinter diesem Präsentierzwinger erstrecken sich die anderen Zwingeranlagen. Ich sehe Betonboden, einzelne Boxen nebeneinander, getrennt durch Gitterstäbe. Dort sitzen die Zuchthündinnen und -rüden. Sie sind außer Rand und Band. Sie bellen laut und aufgeregt. Sie springen an den Gitterstäben hoch. Sie strecken ihre Pfoten und Nasen durch die Gitter.
Ich öffne meine Tür, habe einen Kloß im Hals, Tränen in den Augen als ich dieses Szenario sehe. Ich schlucke meine Tränen und meine Wut herunter. Ich balle meine Fäuste in der Tasche zusammen und steige aus meinem Auto.
Da kommen schon 2 Leute auf mich zu. Ein junger Mann und eine junge Frau. Sind das die Betreiber? Sohn und Tochter, wie sich schnell herausstellt, aber fest involviert in den Zuchtbetrieb. Eine freundliche Begrüßung folgt. Auch ich bin freundlich und tue interessiert. Meine Wut und meinen Ärger habe ich herunter geschluckt. Wir lassen uns die Zwinger zeigen.
Die Hunde veranstalten ein Höllenspektakel in ihren Zwingern. Sie bellen, jaulen und winseln. Es ist so laut, dass man sich anschreien muss, um überhaupt etwas zu verstehen.
Wir gehen an den Zwingern vorbei,
ich sehe die Hunde darin. Die Zuchthunde. Aufgeregt laufen die Hunde in den einzelnen Boxen herum. Immer an den Gittern entlang. Sie freuen sich, sie wollen gestreichelt werden. In einem Zwinger sehen wir eine Schäferhündin und eine Beaglehündin. Die Schäferhündin streckt mir ihre Nase und eine Pfote durch die Gitterstäbe entgegen. Sie wedelt und jault leise. Impulsiv strecke ich meine Hand aus und streichele die Hündin. Sie drückt ihren Körper an die Gitterstäbe. Ich kraule ihren Rücken. Die Führung geht weiter.
Der Sohn führt uns herum und zeigt uns alles. Er sagt, welche Hündin in welchem Zwinger sitzt. Die Hündinnen sitzen immer zu zweit in einem Zwinger. Immer eine große und eine kleine Hündin zusammen. Der Sohn sagt, aus tierschutzrechtlichen Gründen würden sie das so machen müssen. Die dürfen nicht alleine im Zwinger sitzen. Ich nicke nur. Realisiere erst später, welche Ironie in seinen Worten zu finden ist, die er selber sicherlich nicht bemerkt haben dürfte.
Wir kommen zu einem Zwinger mit einer kleinen Golden und einer Beagle Hündin. „Die hier ist für euch!“ Verkündet der Sohn. Die Golden dreht sich wie verrückt im Kreis ohne stehen zu bleiben. Sie dreht sich in einer irren Geschwindigkeit immer wieder um sich selbst. Sie ist völlig außer sich. Mein erster Gedanke „Zwingerkoller“. Später werde ich sie mit zu mir nach Hause nehmen.
Im letzten Zwinger sitzt eine alte Golden mit rotem Fell.
„Die ist auch für euch.“ Sagt der Sohn. „Das ist die 9-jährige“. Fügt er noch hinzu. Ich nehme es kommentarlos zur Kenntnis. Was sollte ich auch sagen. Die Hündin scheint am Ende ihrer Kräfte zu sein. Der Stress der letzten Jahre hat ihr schwer zugesetzt.
Wir gehen an den Zwingern zurück und dann die vordere Reihe entlang. Auch dort sitzen Zuchthunde jeder erdenklichen Rasse, Farbe und Form. Auch hier das gleiche Bild. Hunde die wie wild an den Gitterstäben hochspringen, die ihre Nasen durch die Gitter drücken, die sich gegenseitig vor lauter Stress anknurren und nach einander schnappen.
Im Vorletzten Zwinger sitzen 2 Golden Retriever.
„Die Rote ist auch für euch!“ Sagt der Sohn. „Und die andere? Was ist mit der anderen? Wollt Ihr die nicht auch abgeben?“ Frage ich ihn. „Nee, nee, das ist meine. Die behalte ich!“ Verkündet er voller Stolz.
Ich frage, ob wir in die Stallungen hinter dem Wohnhaus auch mal einen Blick hinein werfen dürfen. Wir dürfen. Von drinnen kommt uns ein kleiner Langhaardackelwelpe entgegen. Er tapst aus dem Dunkel des Stalls raus ins Sonnenlicht. Was mit dem Dackel dort ist, will ich wissen. Ach der, der schlüpft immer zwischen den Gitterstäben hindurch, weil er so klein ist, kriege ich als Antwort zu hören.
Wir gehen in den Raum, aus dem der Kleine kam.
Dort sind einige Boxen mit Hunden belegt. Die Boxen sind verfließt und jeweils durch Gitter voneinander und nach vorne hin abgetrennt. Unter anderem sitzt dort eine Golden Hündin mit ihren Welpen. Ich kann sie nicht zählen. Es sind so viele. Ich schätze mind. 10 Stück. Sie sind alle schon recht groß. Vielleicht schon 8 Wochen alt. Die Hündin, sie ist klein und zart, kommt sofort an die Gitterstäbe ran. Sie leckt meine Hände, streckt ihre Pfoten durch die Gitterstäbe. Sie winselt ganz leise und wedelt verunsichert. Ich knie mich hin, strecke beide Hände durch die Gitterstäbe, ich streichle die Hündin. Sie drückt sich enger an die Gitter. Auch die Welpen möchten gestreichelt werden. Sie drängeln sogar ihre eigene Mutter dabei etwas ab. Ich versuche sie alle zu streicheln, so viele wie möglich zu berühren, nur einen kurzen Moment…. es zerreißt mir fast das Herz, diese Hündin mit ihren Welpen so zu sehen. So sollte eine keine Hündin mit ihrem Welpen untergebracht sein. Ein bisschen Streu liegt auf dem Boden und zwei Blechnäpfe. Kein Spielzeug, keine weiche Decke.
Ich frage mich oft, was aus dieser Hündin geworden ist….
Auf der anderen Seite sind die Dackelwelpen. Der Kleinste ist wieder zu seinen Geschwistern durch die Gitterstäbe geschlüpft. Keine Mutter bei den Welpen. Auf Nachfrage erklärt der Sohn, dass die Mutter woanders untergebracht ist, weil die Welpen ihr das Gesäuge zerbeißen würden.
Wir haben genug gesehen, wir möchten hier fort mit unseren 3 Zuchthündinnen. Der Papierkram ist schnell erledigt und wir können die 3 Golden Mädels jetzt in Empfang nehmen. Wir bekommen die Papiere, die Impfausweise und auf einem Zettel werden noch schnell die letzten Läufigkeiten der Hündinnen gekritzelt. Alles erfunden, wie wir bald heraus finden müssen.
Der Sohn geht zum letzten Zwinger und lässt die alte 9-jährige heraus. Sie schießt aus dem Türspalt, galoppiert über den Rasen, macht schnell ein Pfützchen und düst weiter. Hurra, endlich laufen und springen! Jackie, nennt sie der Sohn.
Sie kommt auf Zuruf und wir können Jackie das Geschirr anlegen. Sie lässt es sich ohne Gegenwehr gefallen. Jackies Vorderpfoten sehen schlimm aus, das Fell ist abgeknabbert und die Haut ist gerötet, verschorft, teilweise offen. Langeweile, schießt mir bei diesem Anblick durch den Kopf.
Der Sohn öffnet den nächsten Zwinger.
Die irre Kleine kommt heraus gerast. Auch sie rennt über den Rasen, macht schnell ein Pfützchen und düst weiter. „Ich sage immer Flöckchen zu ihr“, erklärt mir der Sohn mit etwas Wehmut in der Stimme. „Eigentlich heißt sie Mandy.“ Über ihr Weggehen scheint er traurig zu sein.
Ich lege ihr das Geschirr an. Es ist viel zu groß, weil die Kleine nur noch Haut und Knochen ist. Ich versuche es enger zu machen, versuche so schnell wie möglich, aber es gelingt einfach nicht. Die Hunde in den Zwingern machen so einen Lärm, sie kläffen und bellen, sie springen wieder an den Gittern hoch. Es macht mich ganz verrückt, weil ich genau weiß, dass wir nur 3 von ihnen mitnehmen können. Die anderen werden hier bleiben müssen. Die Kleine hat sich auf den Boden geschmissen und ergibt sich einfach nur ihrem Schicksal.
Als letztes öffnet der Sohn die Tür zu Ginas Zwinger. Auch hier das gleiche Spiel wie bei Jackie und Mandy zuvor. Rennen, Pfützchen machen, weiter rennen. Gina läuft immer wieder an mir vorbei, will sich nicht einfangen lassen. Der Sohn ruft Gina und sie gehorcht ihm. Sie schmeißt sich vor seine Füße und lässt sich das Halsband anlegen.
Jeder von uns hat eine Hündin an der Leine. Ich habe Gina. Sie marschiert selbstbewusst voraus, so als würde sie jeden Tag Gassi geführt werden.
Wir setzen Jackie und Gina in das andere Auto. Sie werden gemeinsam bis zu Jackies zukünftiger Pflegestelle gefahren. Von dort aus wird Gina von ihrer Pflegefamilie abgeholt werden.
Ich führe Mandy zu meinem Auto. Sie ist sehr ängstlich und mag nicht mitgehen. Es sind nur ein paar Meter. Sie drückt sich auf den Boden und robbt über den Boden bis zu meinem Auto. Ich streichele sie, versuche sie zu beruhigen. Sie ist total aufgeregt, völlig verängstigt und überfordert. Ich gebe ihr Leckerchen, hebe sie hoch und setze sie vorsichtig in den Kofferraum meines Kombis.
Dann taucht plötzlich die Tochter auf und schaut in meinen Kombi. „Ach, die frisst ja schon.“ Etwas empört hört es sich an oder enttäuscht. Ich weiß es nicht genau. „Na ja, mit Speck fängt man Mäuse.“ Versuche ich zu vermitteln. Sie soll nicht das Gefühl haben, dass die Mädels gerne ihre gewohnte Umgebung verlassen, schießt es mir durch den Kopf, obwohl es mir doch egal sein sollte. Obwohl ich sie doch beschimpfen und anschreien möchte, bin ich nett und freundlich zu ihr. „Ja, mit Speck fängt man Mäuse. Da hast Du recht.“ Sagt die Tochter und streichelt Mandy ein letztes Mal über den Kopf.
© Hilke-Inse Mittag, Januar 2008
Danke an Hilke-Inse Mittag und ihre Mutter, die diese, nicht leichte, Fahrt auf sich genommen haben.
Dori war anschließend als Pflegehund bei Hilke und wurde, zusammen mit ihrer Hündin Maggie, auch eine ehemalige Zuchthündin, auf ein Leben in der Familie vorbereitet. Dori ist die einzige, die heute noch lebt.
Diese drei Golden Girls waren Dori, Francis und Leavy, deren Vita sie hier lesen können.
Juli 2016
Unsere Gedanken sind bei den „drei Golden Girls“, Dori † 2016, Francis, † 2010 und Leavy, † 2009, die im Regenbogenland nun wieder vereint sind.
Wir sind traurig, weil sie nicht bei bei uns sein können, aber dankbar, dass wir ihnen im Sept. 2007 , zusammen mit den Pflege- und Adoptivfamilien, den Weg in ein neues, besseres Leben ebnen durften. Sie wurden von wunderbaren Menschen begleitet, geliebt und umsorgt, bis zur letzten Reise ins Regenbogenland. Mit einem weinenden und einem lachenden Augen werden wir immer an euch denken.